Appolonia Alberich sucht das Glück
Es war der 31. Dezember, als Apollonia Alberich einen Neujahrsvorsatz fasste: Sie beschloss, im nächsten Jahr unsichtbar zu werden.
Sie hatte über das scheinbar unlösbare Problem lange und gründlich nachgedacht. Aber wie es Männer gab, die nicht nur Herzen brachen, sondern diese auch in andere Körper transplantierten, musste es auch eine Lösung für dieses viel banalere Problem geben. Was war schließlich ein gebrochenes Herz gegen das Verlangen, nicht mehr Teil der weltlichen Existenz zu sein.
Apollonias Herz war ebenfalls gebrochen worden – dies war jedoch auch nicht wirklich schwierig, hatte es doch in all den Jahren mehrere Bruchstellen erfahren, die es nur eine Frage der Zeit werden ließen, wann das malträtierte Herz seinen Dienst quittieren würde.
Nicht dass Apollonia im klassischen Sinne unglücklich gewesen wäre – wie auch, hätte sie, um die Abwesenheit von Glück zu spüren doch irgendwann die Anwesenheit eines einzigen Glücksatoms atmen müssen. Doch Apollonia Alberich bemitleidete sich nicht, im Gegenteil – war sie doch dazu erzogen, demütig und dankbar zu sein. Dankbar dafür, als Frau die Gnade der späten Geburt im wohlhabenden Mitteleuropa des 20. Jahrhunderts erfahren zu haben. Demütig den Leistungen der Feministinnen der viel zitierten sexuellen Revolution gegenüber, die keine Gelegenheit ausließen, Frauen wie Apollonia auf ihr Glück und ihre hart erkämpften Freiheiten hinzuweisen, die ihr, der Jungen, anstrengungslos in den Schoß gefallen waren. Und die nicht müde wurden, die gepriesenen Früchte der Freiheit bei den Töchtern einzufordern.
Apollonia hinterfragte all diese Dinge nicht, sie ließ es einfach dabei bewenden, zu sein. Und sie dachte lange, dass das simple Sein ausreichen würde, auch zu existieren. Doch die Jahre vergingen und das Sein wich noch immer keiner ernst zu nehmenden Existenz. Und irgendwann hinterließ die Glücksabwesenheit ein diffuses Gefühl der Leere bei Apollonia. Doch auch diese Leere konnte sie gar nicht wirklich spüren, wie fühlt sich denn die Leere überhaupt an? Gemeinhin definiert sich Leere als Gegenteil von, ja wovon? Fülle ? Vollheit ? Völlerei ? Vollkommenheit ? Doch wie fühlte sich Vollkommenheit an? Apollonia grübelte auch über dieses Problem intensiv nach, wie es ihre Art war: gründlich, hingebungsvoll, konzentriert. So wie sie es gelernt hatte. So wie es von ihr erwartet wurde.
Vollkommenheit konnte Apollonia aber auch nicht erfühlen und ganz und gar abwegig erschien ihr der Gedanke, Vollkommenheit mit sich in Zusammenhang zu bringen. Kein Spinnfaden von Vollkommenheit wollte sich aus ihren Gedanken in ihr Herz weben.
Apollonia verzagte jedoch nicht und versuchte das drängende Problem des Glückserfühlens auf ihre Art zu lösen: Sie beschloss, ihre Gefühlsversatzstücke einer Negativauslese zu unterziehen. Vielleicht blieb das Glück ja übrig, wenn sie all die anderen Gefühle aussperrte aus ihrem Herzen. Sozusagen ein Gefühlsvakuum herstellte und das letzte Molekül, der letzte Schein, das letzte Blitzen, das der Leere trotzte, würde das Glück sein, konnte nur das Glück sein. Ein Negativbeweis des Glücks sozusagen.
Gesagt getan. Apollonia trieb alle ihre Gefühle in ihr Herz, ließ die Gefühle Bocksprünge vollführen, ließ sie ihr Herz beweiden bevor sie sie eines nach dem anderen talwärts trieb in die Niederungen ihrer Seele, sie aussperrte aus ihrem Herzen. Alle Gefühle mussten sich fortan begnügen, eine abstrakte Größe in Apollonias Gefühlsuniversum zu sein. Erst wenn das Glück da gewesen wäre, wenn es sich Apollonia offenbart hätte und sei es nur für den Hauch einer Zeitenfeder, erst dann wäre Apollonia wieder bereit für die Beziehung zu ihren anderen Gefühlen. Bis dahin wollte sie keine anderen Gefühle zulassen außer dem Glück. Sie wollte gleichsam monogam mit ihrem Glück leben, sich ihm einzig hingeben, sich einlassen auf das Glück wie auf einen einzigen, wie auf den einen, den unbedingten Liebhaber. Sie ersehnte die Berührung und Intimität des Glücks, die Verheißung des Unbekannten.
Apollonia wartete. Sie war geduldig, sie wusste, das Glück ließ sich nicht erzwingen, man musste es sich verdienen. Und da alle anderen Gefühle ja keinen Platz hatten in Apollonias Herzen, da sie ja Platz gemacht hatte für das Glück, konnte sie weder Neid auf das Glück der anderen spüren, noch Ungeduld oder Hader, schon gar nicht Zorn oder Missmut darüber, dass sich das Glück gar so viel Zeit ließ mit dem Herzensbesuch.
Doch je länger Apollonia wartete, desto weniger vermisste sie das Glück. Sie hatte sich daran gewöhnt, dass ihr Herz leer war und sie fing an, diesen Zustand für vollkommen zu halten. Denn wer brauchte schon das Glück, wenn er kein Unglück fühlte und auch keinen Zorn und keinen Neid und keinen Hader. In einer Seele und einem Herzen ohne diese Aggregatzustände der Unvollkommenheit wie sollte da der Verlust oder die Leere spürbar sein ?
Und irgendwann kam Apollonia zu dem Entschluss, dass aufgrund der Abwesenheit ihrer Gefühle auch ihr Dasein der Leere weichen könnte und wurde unsichtbar.
Und in dem Moment als sich ihr Dasein materialisierte und einer abstrakten Existenz wich, geschah das Unvermutete: Apollonia wurde vom Glück umfasst, es bemächtigte sich ihrer selbst mit einer Heftigkeit, die keines der anderen Gefühle je bei Apollonia auslösen hatte können. Wie ein schwarzes Loch sog Apollonias Nicht-Sein das Glück an und zum ersten Mal seit ihrer Geburt war Apollonias Seele wirklich existent.
E N D E