Dialog mit dem Hunger

„Versuche, jemandem die Hungerkunst zu erklären! Wer es nicht fühlt, dem kann man es nicht begreiflich machen.“

(Franz Kafka, Ein Hungerkünstler)

Der Hunger, das ist mehr als eine einfache physische Reaktion auf Nahrungsmangel, der Hunger definiert den schmalen Grat zwischen Tugend und Todsünde, zwischen Verzicht und Gier, zwischen dem Sein und dem Haben und der Leere und der Fülle. Das Bedürfnis nach Nahrung ist eines der elementaren menschlichen Grundbedürfnisse. Abraham Maslow setzte sie in seinem Motivationskonzept der Bedürfnishierarchie an die Basis und stellte die These auf, dass erst dann, wenn die biologischen Bedürfnisse wie Hunger und Durst erfüllt wurden, der Mensch sich der Befriedigung anderer in der Bedürfnishierarchie weiter oben angesiedelten Bedürfnissen wie z.B. jenem nach Wertschätzung oder Selbstverwirklichung zuwendet. In unserer westlichen Welt, in der wir diese Grundbedürfnisse im Überfluss stillen können, gerät diese Hierarchie gerne in Vergessenheit. Na und, könnte man jetzt meinen – Gott sei Dank leiden wir keinen Hunger und kennen das drängende Gefühl der Leere in unserem Magen nicht mehr. Das ist natürlich richtig, doch stattdessen hat eine andere Leere von uns Besitz ergriffen, die Leere unseres Seins und unseres Geistes, eine oft drängendere Leere als sie das Knurren in unseren Mägen je vollbringen würde. Es ist eine epidemische Leere, eine Absenz von Glück und Zufriedenheit, die sich ähnlich wie früher die Pest oder die Cholera in unseren Körpern breit macht. Und wie im finstersten Mittelalter haben sich auch heute schon die Ablasshändler unters Volk gemischt: Eine ganze Industrie an Wohlfühl-, Anti-Aging-, Burnout-Prophylaxe- und Resilienz- Gurus hat das Geschäft mit der Leere bzw. dem Mangel an Leere gewittert und jeden Tag werden wir von dutzenden Hochglanzprospekten überschüttet, die mit immer neuen, 100%ig wissenschaftlich profunden Methoden – schließlich glaubt ja keiner einfach so mehr an das Seelenheil – unsere Leere mit Glück erfüllen wollen – am besten gegen Vorauskassa.

Doch kann man auf das Glück einfach ein Aconto leisten? Und wenn ja, wie hoch ist der Preis dafür? Oder ist das Glück gar kein zweiseitig entgeltliches Geschäft, sondern einfach eine Schenkung auf Zeit? Oder vielleicht müssen wir es nur einfach ausloben, um es anzulocken?

Über die Leere und das Glück wurden schon so manche Bestseller geschrieben, der Hunger als Vorstufe zur Leere scheint sich nicht so großer literarischer Beliebtheit zu erfreuen, er darbt dahin mit gerade einmal zwei wirklich bekannten Geschichten: „Hunger“ von Knut Hamsun und „Ein Hungerkünstler“ von Franz Kafka. Kafka greift in seiner Erzählung das Thema der sogenannten Hungerkünstler auf, Schausteller, die im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts eine beliebte Jahrmarktattraktion darstellten, indem sie öffentlich fasteten und mit dem „Schauhungern“ sogar Tourneen bestritten. Kafkas namenloser Hungerkünstler – erst ein bejubelter Star seines Metiers, später eine vergessene, verhungerte Reliquie einer uns seltsam anmutenden Unterhaltungsindustrie vergangener Zeiten, die bei genauerer Betrachtung aktueller nicht sein könnte. Am Ende seines Lebens offenbart uns der Hungerkünstler auf die Frage nach dem Grund seiner Askese die simple Wahrheit: „…weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.“

Unsere Gesellschaft – deren politische Proponenten und angebliche gesellschaftliche Role Models sowieso immer real-kafkaesker anmuten – scheint das Problem anders zu lösen: Wir hungern nicht mehr, sondern wir fressen und fressen und finden doch auch nichts, das uns so richtig schmeckt.

Doch obgleich so wenig die Literatur hergibt in Bezug auf den Hunger, hat die deutsche Sprache an sich doch viel Hunger im Repertoire: wie oft wurde er nicht besungen, der Hunger nach Liebe, nach Freiheit, nach Leben. Und jene, die selbst nicht am Hungertuch nagen, erklären denen, die für einen Hungerlohn schuften, nur zu gerne, dass diese erst einen Hunger wie ein Wolf haben müssen, um den richtigen Hunger nach Erfolg zu verspüren… Der Hunger verkommt nicht nur in Bezug auf unseren Umgang mit der sog. „Dritten Welt“ zur zynischen neoliberalen Motivationskonzeption, in der der „Hungrige“ angetrieben wird durch den Mangel und schon wird er satt und erfolgreich. Der Hunger als Regisseur im Theaterstück der selbst ernannten, aber nie selbst wirklich arbeitenden Leistungsträger (stundenlange Selbstdarstellung in sinnlosen Meetings mag zwar für die Ego-Hygiene gut sein, zählt aber nicht als wirklich produktive Arbeit!), um die Massen ruhig zu halten mit ihrer Posse von Hunger und Aufstieg.

Übrigens ein altes und immer gern gespieltes Stück, der Hunger als Allegorie für die Buße und Erneuerung diente über Jahrhunderte als gesellschaftspolitische Stellschraube: Gefastet wurde, um Buße zu tun, zu trauern oder auch als Vorbereitung für die Begegnung mit Gott. Angenehmer Nebeneffekt: Wer freiwillig fastet, schüttet vermehrt Serotonin aus, das uns bekanntlich nicht nur schlank, sondern auch high werden lässt. Und wer zettelt schon zwar hungrig, aber gut gelaunt eine Revolution an? Wenn Sie genau hin hören beim Einheits-Politiker-Sprechbrei, so wird der Bürger ja nicht durch „Sparpakete ausgehungert“, sondern es wird von einer „Fastenkur für den Staat“ gesprochen… Man wartet eigentlich ja nur darauf, bis man die täglichen nichtssagenden Politiker-Floskeln in der ZIB 2 noch mit smoothem Elevator-Jazz untermalt…

Ich jedenfalls habe den Jahreswechsel dazu genutzt, mich selbst auf die Spuren des Hungers zu begeben. Zu diesem Behufe habe ich im Kloster eingecheckt, genauer gesagt in einem säkularisiertem Kloster, um allen Indoktrinationen vorsorglich im Ansatz zu wehren. Ich wollte herausfinden, was der Hunger und die Entsagung mit einem macht – und ja, bevor Sie mich zu Recht der Heuchelei zeihen, ich war nicht abgeneigt, mich auch von einigen Kilos zu trennen… Meine näherungsweise Rubens-Figur und ich haben also ein karges Zimmer mit Waldblick (echtem Waldblick mit echtem Buntspecht vor dem Fenster, nicht nur so ein rachitischer Beserlpark, der im Reiseprospekt auf Tannenwald gephotoshopt wurde) in the Middle of Nowhere bezogen und haben entsagt. Allem. Dem Essen. Dem Fernsehen. Dem Internet. Dem Handy. Und vor allem dem ständigen Denken. Den Aconto-Sorgen, die das Aconto-Glück ständig ins Soll drehen. Dem ewigen geistigen Fressen, das uns doch nie satt werden lässt.

Für eine Frau, deren zukünftiger Gemahl vor vielen Jahren zur Mittagszeit den legendären Ausspruch tätigte: „Von allen Ängsten mit Dir ist meine größte, dass ich Dich nicht der´füttern kann!“ (der romantischste Seufzer, der je im Angesicht der Seufzerbrücke getan wurde…), eine beängstigende Aufgabe.

Aber was soll ich sagen? Die Legende vom Fasten-Hoch stimmt. Der Körper kommt mit dem Hunger viel besser zu Recht als unser Gehirn, das uns nach einigen Tagen der völligen Leere ab und an noch gerne zum Hunger verführen will. Auf einmal wird das Gehirn, das so überlegene Zentrum des menschlichen Körpers, auf dessen Leistungen wir zu Recht stolz sind, unser Motor der Zivilisation, der Blue-Chip des Menschen, zum Sklaven des Restes von uns. Und ehe wir es bemerken, erheben sich Regionen in uns, die wir schon lange nicht mehr wahrgenommen haben und übernehmen das Kommando. Wir lassen das Denken los und spätestens das ist der Moment, an dem wir dem Hunger danken: Dafür, dass er die Leere in uns erzeugt, die notwendig ist, um das Glück und die Hoffnung, die Zufriedenheit und das einfache Sein wieder einzuladen, uns nicht nur flüchtig zu begegnen, sondern uns im wahrsten Sinne des Wortes zu erfüllen.